Dieser Artikel ist 2025 im Rahmen eines Leistungsnachweises am MAZ entstanden.
Nahtoderfahrung - ein Gespräch übers Leben
Mit 8 Jahren geriet Julia Schneider* in eine Lawine und stürzte über eine Felswand in den sicheren Tod. Es folgte eine Nahtoderfahrung. Durch den kurzzeitigen Abschied vom Leben hat sie einen neuen Zugang zur Gesellschaft gefunden. Wir sprechen darüber, wie der Tod das Leben verändert.
Als ich am späten Nachmittag den Vorgarten von Schneiders Haus betrete, muss ich schmunzeln. Im Garten liegen Kürbisse mit Blättern so gross wie Schallplatten. Vor mir spaziert eine dicke, grüne Eidechse vorbei, in einer Seelenruhe, die ich mir von meinen grauen Stadteidechsen gar nicht gewohnt bin. Schneiders Zuhause ist ein Ort des blühenden Lebens. Ein fast schon amüsanter Kontrast, hier über den Tod zu sprechen. Inmitten eines Zimmers, «dessen bunte Wandfarbe aus Naturstein gewonnen» wurde, starten wir ins Thema Tod.
Die Lawine
Mit 8 Jahren tritt Schneider auf einer Bergtour mit ihren Eltern eine Lawine los. Ihre Mutter ist schon weit voraus, ihr Vater hinter ihr kann nichts mehr ausrichten. Sie wird zusammen mit einem jungen Mann mit der Schneemasse Richtung Tal gezogen. Für die junge Julia ist es ein Schreckensmoment, die Panik und der Schnee ziehen ihr den Boden unter den Füssen weg. Im ersten Moment orientierungslos schreit sie nach ihrer Mutter, während der junge Mann ihr von hinten zuruft, dass sie schwimmen solle. Wenige Augenblicke später stürzt sie über eine Felswand in die Tiefe. Im freien Fall kommt der Moment, in dem sie sich sicher ist: «Jetzt ist es fertig, jetzt sterbe ich». Als nächstes beschreibt Schneider ein Phänomen, das der Forschung zum Thema gut bekannt ist. Ihr Leben zieht in schnappschussartigen Sequenzen vor ihrem inneren Auge vorbei. Auch ihre eigene Geburt sieht sie von aussen. Schneider beschreibt ein Gefühl der Herzenswärme, welche sich um sie herum in Licht verwandelt. Dieses Licht bestünde aus kompletter Geborgenheit und Vertrautheit. Dann folgt der Aufprall. Im erneuten absoluten Schock löst sich ihr Zeit- und Raumbewusstsein auf. Die 8-Jährige weiss lange Zeit nicht, ob sie nun tot oder lebendig ist. Als die Schneemasse zum Erliegen kommt, hat Schneider unglaubliches Glück: Ihr Oberkörper bleibt oberhalb der Schneemasse.
Nahtoderfahrungen als Phänomen
Erlebnisse wie das von Schneider kommen im deutschsprachigen Raum weniger selten vor, als man vielleicht denkt. Allein in Deutschland gibt es über 3 Millionen Berichte zum Thema. Einige Studien gehen davon aus, dass ca. 4-15 % der Menschheit irgendwann im Leben von Nahtoderfahrungen betroffen sind. Viele berichten von ähnlichen Gefühlen und Erlebnissen. Da wäre zum Beispiel das Leben, welches bildartig an einem vorbeizieht. Darauf sollen oft Gefühle von Geborgenheit und Wärme folgen. Auch Begegnungen mit strahlendem Licht bis hin zu Interaktionen mit Lichtwesen kommen laut Betroffenen nicht selten vor. Von der Auflösung von Ängsten, insbesondere der Angst vor dem Tod, berichten fast alle Menschen mit Nahtoderfahrungen. So auch Schneider. Seit ihrem Nahtoderlebnis hat sie in keinem Lebensbereich mehr Ängste. «Angst ist ein Konstrukt, das Menschen davon abhält, Verantwortung zu übernehmen» sagt sie zur Lehre Ihres eigenen Erlebnisses. Durch die Auflösung der Angst vor dem Tod habe sie einen sehr starken Bezug zum Tod, genauso wie zum Leben. «Meine Nahtoderfahrung brachte zwar schöne Gefühle mit sich, aber das Leben ist mindestens genauso schön», fügt sie hinzu.
Das Leben nach dem Tod
Den starken Bezug zum Leben und Sterben erklärt Schneider auch als Vorahnung dafür, was nach dem Tod kommt. Für sie ist der Tod ein Übergang, in dem man auf einer gefühlten Ebene nochmal damit konfrontiert ist, wie man gelebt hat. Das könne für manche Menschen sehr wohl eine gefühlte Hölle bedeuten. «Oder eben den Himmel, wenn man verdrängte Gefühle endlich fühlen darf», fügt sie hinzu. Schneider ist sich sicher: «Unsere Existenz ist nicht endlich, das ist für mich ganz klar.» Sie warnt aber auch vor zu viel Kopfzerbrechen über das Thema Leben und Tod und dem Sinn dahinter: «Man muss den Sinn nicht immer spüren. Es reicht, wenn man weiss, dass das Leben irgendeinen Sinn hat. Und das ist ganz sicher so. Bei allen von uns.»
Und was meint die Wissenschaft?
Nahtoderfahrungen sind in der Medizin ein kontroverses Thema. Während der bekannte niederländische Nahtodforscher Pim van Lommel davon überzeugt ist, dass der Tod nicht nur im Kopf stattfindet, sehen andere die Phänomene der Nahtoderfahrungen lediglich als letzte Endorphin-Ausschüttung des Gehirns. Schneider nimmts gelassen. Die Wissenschaft käme erst langsam darauf, was der Tod wirklich bedeutet: «…wie wir auch nicht viel übers Universum wissen, oder unsere Meere, sind wir eben auch bei unserem Bewusstsein erst am Anfang der Forschung.»
Gesellschaftskritik
Was Schneider eher für veränderungsbedürftig hält, ist der Umgang mit Tod in der westlichen Gesellschaft. Schwierig findet sie, wenn Religionen als Instrument zur Angstmache vor dem Tod missbraucht werden. Der springende Punkt sei, dass Menschen manipulierbar wären, wenn sie Angst hätten. Menschen mit Ängsten vor dem Tod oder anderen Dingen rät Schneider in die Natur zu gehen. «In der Verbindung mit der Natur und mit offenem Herzen lassen sich dieselben Gefühle erreichen, wie in einem Nahtoderlebnis auch».
Damit mache ich mich, nachdenklich und etwas widerwillig, auf den Weg zurück in die Grossstadt.
*Name geändert.